Verwisch die Spuren!

Flanieren in Berlin.


Hierzulande muß man müssen, sonst darf man nicht.
Hier geht man nicht wo, sondern wohin.
Franz Hessel

Im Rahmen von Radioortung. Ein mobiles Hörspielprojekt.



Verwische die Spuren! befragt den städtischen Raums auf seine Handlungsmöglichkeiten im Zeitalter seiner digitaler Erfassung. Wie lassen sich die eigenen Spuren noch verwischen, wenn Handys nicht nur den Ort des Aufenthalts mitteilen, sondern stetig mit der Umgebung kommunizieren und zahlreiche Spuren hinterlassen? Dieser Frage geht das Publikum in dem umstrittenen Terrain zwischen Alexanderplatz und Humboldtforum nach. Die Teilnehmer werden zu umherschweifenden Flaneuren unter der Bedingung, dass deren abweichendes Verhalten, ihre interesselose Wahrnehmung samt der Kritik des Bestehenden von der genutzten Technik eigentlich ausgeschlossen wird. Sie können an spezifischen Orten Hörminiaturen empfangen, die ihnen Geschichten von der Stadt erzählen, Vorschläge für Handlungen unterbreiten und fragen, ob die Zeit der Flanerie wirklich an ihr Ende gekommen ist.
Gehen in der Stadt Die Geschichte der bürgerlichen Stadt ist eine Geschichte ihrer Überwachung. Mit der Herrschaft des Bürgertums artikulierte sich Ende des 18. Jahrhunderts das Bedürfnis, die Stadt von einem erhöhten Standpunkt zu überschauen. Die mobilen Technologien, GPS und die digitale Durchdringung des urbanen Raums markieren eine neue Qualität, mit der sich die Bewegung in ihm maßgeblich verändern wird. Konnte Michel de Certeau in den siebziger Jahren noch dem panoptischen Blick die „Rhetorik des Gehens“ gegenüberstellen, die sich der Kontrolle entzieht und selber Geschichten schreibt, so wird das Gehen nun selbst zur Produktion quantifizierbarer Daten. Die Geschichten verwandeln sich in Wahrscheinlichkeiten, die Möglichkeiten des Raums, bei de Certeau noch als utopisches Potential ausgewiesen, werden zur statistischen Abweichung.



Der Flaneur
Die Figur des Flaneurs stand dem Bedürfnis der Kontrolle entgegen. Von Edgar Allen Poe als „Verdächtiger schlechthin“ beschrieben, bleiben die Ziele dieses Massenmenschen Ziele undurchdringlich, ein unheimlicher Zeitgenosse, der keine Zwecke verfolgt. Vermittelt durch Charles Baudelaire wurde diese Figur von den Pariser Surrealisten um Louis Aragon wiederentdeckt und politisiert als Abweichler, der dem Stand der Gesellschaft genug voraus ist, um im Müßiggang ihre Mechanismen zu durchschauen und abzulehnen. Walter Benjamins spitzte dies geschichtstheoretisch zu: der Flaneur rettet im Eingedenken die sich zu Trümmern häufende Geschichte. In der Praxis des dérive, des Umherschweifens aktualisierte die Situationistische Internationale das Flanieren als revolutionäre Praxis, mit der eine Stadt jenseits der Warengesellschaft imaginiert werden kann.
Spazieren in Berlin

Obschon E.T.A. Hoffmann in seiner Erzählung Des Vetters Eckfenster bei der Betrachtung des Gendarmenmarkts keinen Flaneur zeichnet, bildet sich im Berlin der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts mit Siegfried Kracauer, Walter Benjamin, besonders aber Franz Hessel ein Diskurs heraus, der lange Zeit unterbrochen, oft beschworen, aber in seiner Aktualität niemals praktisch überprüft wurde. Historisch überdeterminiert wie Berlins Mitte ist, scheint er das ideale Pflaster zum „Memorieren im Schlendern“ (Benjamin), in dem es die Zukunft zu entdecken gilt. Dabei wird sich die Arbeit auf das Areal zwischen Alexanderplatz und dem zukünftigen Humboldt-Forum konzentrieren, für das derzeit die verschiedene Entwürfe zur Neugestaltung diskutiert werden. Das Areal gehört zu den ältesten der Stadt, ohne dass die Spuren seiner wechselhaften Geschichte erkennbar wären – und das in seiner heutigen Gestalt schon in wenigen Jahren schon verschwunden sein wird. Hessel begreift in seinem Essay-Band Spazieren in Berlin das Gehen als Lesen, bei dem die Produktion der eigenen Subjektivität durch den Text der Stadt aus ihrer Unbewußtheit herausgeholt und lesbar wird – diese Funktion übernehmen unsere Hörstücke.



Der Datendandy


Obwohl viele künstlerische Arbeiten der letzten Jahrzehnte an an diese Traditionslinien des Umherschweifens anknüpfen, muß gefragt werden, ob die immer schon melancholische Figur des Flaneurs nicht an das Ende ihrer Tage gekommen ist. Der kontrollierte öffentliche Raum, das Hinterlassen digitaler Spuren machen die verdächtigen Bewegungen im Detail nachvollziehbar und deren Zwecklosigkeit zur statistischen Größe, die eingerechnet wird, um auch für sie noch ein Warenangebot zusammenzustellen. Bei jedem Schritt erforscht er nicht das Unbekannte und Unerwartete, sondern er ist über seinen aktuellen Standpunkt ebenso gut informiert wie über die ihn umgebenden Räume und ihr Warenangebot. Die ursprüngliche urbane Erfahrung – in der Menge zu verschwinden und die Orientierung zu verlieren – ist damit unmöglich geworden. Verwische die Spuren! war der Imperativ des Flaneurs, der nun kaum mehr einzuhalten ist – und doch bleibt zweifelhaft, ob der Stadtraum so eindeutig ist, wie er zwischen 0 und 1 erscheint. Erst in der Lektüre der eigenen Spuren, so die These, wird die Voraussetzung geschaffen, sich in einer digital verschriftlichten Stadt der Erfassung zu entziehen und den Flaneur wiederkehren zu lassen. Welche neuen Bewegungen so ermöglicht werden, das bleibt auszuloten.



Die Ambivalenz der Räume


Verwische die Spuren! versucht so die Erfahrung der Flanerie zu bergen. In ihr bleibt der Raum zwielichtig und uneindeutig: „In der Flanerie wird simultan wahrgenommen, was alles nur in diesem Raume potenziell geschehen ist. Der Raum blinzelt den Flaneur an: Nun, was mag sich in mir wohl zugetragen haben?“ (Benjamin) Wir laden dazu ein, sich dieser Uneindeutigkeit und Zwielichtigkeit anzuvertrauen, die Simultaneität, die Potentialität des Raums in Berlin Mitte zu untersuchen. So transparent der städtische Raum heute erscheint, das Hören öffnet ihn hinsichtlich seiner historischen Spuren. Das Brüllen der „verborgenen Stadt“ (Bernard von Brentano) wird hörbar und so zugleich erfahrbar, was im Laufe von Jahrhunderten erschienen und schon längst wieder verschwunden ist, nicht aber ohne manchmal minimale und erst zu entdeckende Spuren zu hinterlassen. Dient GPS für gewöhnlich der genauen Verortung der Position und somit dem Bestreben, den Menschen dingfest im Hier und Jetzt zu machen, sucht Verwische die Spuren! nach den Möglichkeiten der Technik, den Ort aus der Konstellation heraus zu bestimmen: Aus seinen Assoziationen zu anderen Orten, aus seiner vielschichtigen Vergangenheit, die er dem Auge nicht hergibt, wohl aber den Ohren. Aus seiner ungeschriebenen Zukunft erscheint er schließlich fremdartig in „neuen Nähen und Fernen“ (Hessel). Der Apparat der genauen Ortsbestimmung verwandelt sich in ein Mittel der Überbestimmung, das jeden Ort als Fluchtpunkt vielfältiger Spuren erscheinen lässt und somit seine Eindeutigkeit auflöst.



Die Spuren der Stadt


Häufig zeugt das Offensichtlichste, die Architektur, Denkmäler oder auch Baulücken, von gesellschaftlichen Konflikten, die längst in Vergessenheit geraten sind, aber in diesem spürbar bleibt. Manchmal ist gar nichts mehr sichtbar und muß erst akustisch evoziert werden. Jede Ware ist eine Spur einer komplexen sozialen Beziehung, die sich verfolgen läßt. Verwische die Spuren! wird akustische Miniaturen an ganz unterschiedlichen Orten ablegen. Viele dieser Orte werden nicht sehenswert sein.
Die Miniaturen erzählen Geschichten, machen Radiosendungen und O-Töne wieder hörbar, die sich auf die jeweiligen Orte beziehen, und stellen mit den unsichtbaren Stimmen die Frage der Spur im städtischen Raum. Welche Spuren können hinterlassen werden, die an Verschwundenes erinnern? Wie lassen sich die eigenen Spuren verwischen? Wie lässt sich eine Bewegung im Raum finden, die nicht der Orientierung am Sichtbaren folgt? Was entzieht sich der Statistik?

Die Miniaturen fordern zur Beantwortung dieser Fragen in Aktionen und Bewegungen auf. Strategien müssen entwickelt, verschiedene Zeiten und Orte kombiniert, der Raum nach seinen Möglichkeiten durchstreift werden. Zum Abschluss treffen sich die Teilnehmer an der Weltzeituhr auf dem Alexanderplatz zu einer gemeinsamen Aktion. Sie setzen die Anweisungen zusammen, die sie auf dem Weg eingesammelt haben – und entscheiden darüber, wie im Verwischen der Spuren sich ein unwahrscheinlicher Raum öffnet.


(Produziert für das Deutsche Theater und Deutschlandradio Berlin auf Basis von Radio Aporee)